Donnerstagsgesellschaft Lesungen  2015 - 2011 und 2012 


 
                                                                                                                         Manfred Paß

   Lesung am 10.9. 2015

Gedichte wie Zugvögel

 Liebe Lyrikfreunde!
Ich möchte Sie  heute  einladen zu einer kleinen „aktiven Pause",  in der die Zeit 
für eine  Weile stillsteht.  Ohne ein Innehalten, ein gelegentliches Anhalten im Getriebe kann  Künstlerisches nicht  aufgenommen und zu eigen gemacht werden. 
Hilde Domin sagte einmal :  “ Ein  Gedicht ändert sich unmerklich, wenn es sich mit
‚dem „Ich“ des Lesers füllt.....“  und heute Abend ergänze ich: Wenn es sich mit dem Ich  „Ich“ des "Zuhörers"  füllt ??
Es gibt die  Inseln der Künste neben aller wissenschaftlichen  Erkenntnis und allem  technischen Fortschritt. . Kunst findet zu einer eigenen Sprache. Ihr Atem zaubert
eine Wirklichkeit hinter der Wirklichkeit
des Alltags. 
Auf diesem Hintergrund - in Nischenräumen - kreiert sie eine Sprache, die die Begegnung, Nachdenken und Kommunikation bewirkt.

 Der Titel meiner Lesung lautet:„Gedichte wie Zugvögel“–„Eine aktive Pause im Mahlstrom aller Geschäftigkeit.“

  Es gibt 3 kleine musikalische Einlagen mit Goldberg-Variationen, die  ich sehr liebe.  Sie haben auf originelle Weise ihren Namen bekommen: Bach komponierte 30 kleine Arien,  die er bei einem Besuch vom Zarenhof  in Dresden von einem jungen hochbegabten Schüler aus Berlin vortragen ließ. Der spielte die Stücke  so hervorragend, dass Bach sie nach ihm benannte: Die Goldberg-Variationen!  Ich hoffe, es klappt bei mir mit dem Abspielen!
Ich beginne mit ein paar einführenden Texten, dann folgen weitere unter den Titeln:  

Der Lauf der Dinge
und
Atempausen


Annemarie Schnitt

 

Gedichte wie Zugvögel

    dich mitzuziehen

   in wärmere Zonen

 

Poesie

das beflügelt Wort

das aus der Luft gegriffene
das freigesetzte
zum Flug in die Ferne

 


Meine Freunde

die Worte
wie nahe Wesen
unterwegs mit mir
auf geheimen Wegen

 


Festgehaltene

an weiten Stränden

aufgelesene Gedanken

gefügt zur Form

im Vers

 

 

 Es gibt sie                           

 

die poetische Wahrheit hinter                     

der Wahrheit der Welt
die andere Sicht der Dinge
die dich bannt dich wach
hält
 die
das Leben neu rundet           

 


Eine Weile noch bleiben

nah am Wort
 im Spielraum der Sprache
im Lichtkreis der Sonne
zu erwärmen die Stirn
Verborgenes heimlich
zum Blühen zu bringen

 


Zuweilen halte ich an


Worte zu finden
im Fluss des Tages
fange sie ein
fülle mein Netz
eh sie forttreiben
in der Flut des Vergessens
mich zurück lassen

 wortlos am Weg

                                 

 

Ereignis

einem anklopfenden Gedanken
die Tür des Tages öffnen
dass er eintrete
Licht zünde und
dich fortziehe ins Freie


Musik

 

Der Lauf der Dinge


Manchmal
wache ich auf
mit großem Elan
plane tausend Dinge
schweren Gewichts  
am Ende       den Tag zu
beschließen – mit Nichts

  

Ein  Slam   - (Versuch)

wie du
auf der Stelle trittst
wie du trippelst
wie du taumelst
wie du wankst 

    wie du stolperst
    wie du stöhnst
    wie du suchst
    in allen Ecken
    Dich selbst   zu entdecken

 

 

In jungen Jahren

    
 der Versuch
 freihändig zu radeln
querfeldein
in späten Zeiten
der Versuch
freihändig zu gehen
mutig geradeaus

 


Es kommt eine Zeit

da fährt dir das Leben
davon wie ein Zug
in ungeahnte Ferne
du winkst ihm nach
stumm und staunend
und du hältst an wie
ein verwurzelter Baum

am stillen Fleck

 


Wir  Weitgewanderten

blicken zurück
auf den Weg den langen
den unwiederholbaren
der hinter uns liegt
wir halten an
den Himmel im Rücken

die Welt vor Augen
wagen uns weiter
anzukommen
hinter dem Tag

 

 

 Wie Erntezeit

  das Alter
  wie Wink und Abgesang
  ein neuer Zeitgewinn  

  am Ende turbulenter Tage

  nach allem Bergauf

  das Ankommen in luftiger Höhe
  das Verweilen hinter
dem Gestern

  


 Immer auf der Suche
nach Zusammenhängen
die tragen
die dich weiterbringen
auf Wegen nach vorn
im Unbeständigen
etwas Beständiges
zu entdecken

 


Was ist es

das dich bewegt
das dich am Leben hält
welche Fragen treiben dich weiter
wie viel Antwort
fällt dir vom Himmel
wie viel bleibt hängen im Raum      
es ist das Ungelöste das dich drängt
 Lösung zu finden zum Weiterlauf

 


Wo ortest du dich

im Dschungel der Eindrücke
im Kunterbunt des Alltags
im Netz der Möglichkeiten
wie gehst du dir nicht selbst
verloren in der Vielfalt der Welt
wie findest du die Wegmarkierung
wie fasst du Fuß  wo kommst du an
wirft Vielfalt dich um 
wird sie dein Zuhause
auf den Wegen voran
stolperst du oder wachsen 
dir Flügel
zum Flug ins Gelingen


 

Nichts ist mehr

wie es  war
nichts bleibt  alles bleibt
im Kommen im Gehen 

nenn mir Beständiges
hinter den Dingen
etwas Lohnendes
anzuhalten und
weiter zu gehen mit
dem Zukunftsblick 
der Hoffnung

 


Man müsste mal

ja man müsste mal 
aus seinen alten Kleidern
steigen in ein neues Gewand
mit freundlicheren Farben
leichter zu knöpfen
mit besserem Sitz
um sich neu zu entdecken
sich sicherer zu bewegen
im zweiten Gang

 


       Der Weitblick


       als Rückblick
       auf Generationen
        im Wandel der Zeiten
       Der Weitblick
       als Hoffnungsblick
       auf Zukünftiges

 

Dein Flug in die Ferne            

wir wagen Kühnes
bewegen uns weiter
suchen ein Ziel
lassen uns tragen
durch Lüfte
im blinden Vertrauen 
aufgefangen zu sein

 

Position beziehen

gut zu wissen  wo du stehst

wohin du gehst wo deine Wurzeln

um Undeutliches

deutlicher zu sehen

um eindeutig zu werden

um Position zu beziehen

 


 Zuweilen


zerreißt es dich
landest du im Loch
mitten am Tag
ohne Aussicht
ohne Lichtblick
bis ein Gedanke
ein heller dir hilft
über die Hürde

    

  Wo ist Beständiges

  Im Wandel der Zeiten
  etwas das bleibt hinter
  dem Fliehenden
  etwas das trägt
  wie Töne dich  tragen

         über den Tag

 


Es gibt sie

 

die dunklen Tage hinter den hellen
die Trauer hinter dem Lachen
die Suche nach Sinn 
Es gibt sie

Momente das Ankommens
an neuen Stränden

 

Abstieg oder Aufstieg

Wohin zieht die Menschheit
zu welchen Höhen bergan
wie sehen sie aus
die Ziele der Zukunft
die Utopien des Fortschritts
die Türme  der neuen
Bauten von Babel

 

Die Farbe der Nacht

zerstörende Bilder

rundum in der Welt

wo ist Hoffnung auf Rettung

wo das wache Ohr für

den Aufschrei der Stummen

kein Land in Sicht

auf der Flucht über Meere

wer zählt die Schicksale

verschluckt von der
Farbe der Nacht     

                                             Musik


Atempausen

        


 Atempausen

im Galopp der Zeit
ein Anhalten
in Räumen der Ruhe
einzufangen die Stille
hinter dem Sturm

 

 

 Augenblicke

wie warme Impulse
zum Neuanfang
Eine Begegnung
ein Bild   ein Buch
eine Melodie  ein Duft
ein Gedicht
dich wunderwirksam
zu verwandeln 

 

Alles bleibt offen

im Zuge der Zeit
alles bleibt in Bewegung
im Fluss   im Weiterlauf
einer Antwort entgegen

 


  Das Nischendasein

  Es ist die Nische

  in der du dich sammelst
  die Nische
  aus der du herauswächst
  in die turbulente Welt
  es ist die Nische
  die dich auffängt

       im Rückflug zu dir

 




mit Gedichten
zwischen Gedichten
hinter Gedichten
mit Psalmen
zwischen Psalmen
hinter Psalmen
traumstark
auf ein Mögliches zu

 


Ein Leben 

Ein Psalm (Versuch)
Gott – Du – Unwiderlegbarer

Du – Kraftfeld des Menschen
Du  - Atem des Lebens
Du  - Lichtpunkt im Dunkel
Du  – das ewige Feuer
am Rande der Tage

 

  

Das Schicksal


dein Geschick mein Geschick
was ist es das Schicksal
das unser Leben beschickt
sich einzeichnet in dein Sein
das Schicksal
dem keiner entrinnt
dem du gewachsen sein musst
mit wachem Kopf
 mit klaren Sinnen

 

 

Eines Tages  


herrscht Stille
hinter dem Sturm
wächst ein Lichtstrahl 
im Tunnel der Fragen
fällt Antwort dir zu im
Fortgang der Dinge
eines Tages ein Auferstehen
leichteren Fußes weiter
zu gehen

 


Das Gebet


ein Prozess
ein Anhalten

eine Haltung 
wie ein Selbstgespräch
das Gespräch mit Gott

 

     

Ein Zipfel Zeit

das Leben geht weiter
über unzählige Zeiträume
hinaus in ein Uferloses
ein Zipfel Zeit in deiner Hand
anzuhalten das Unanhaltbare

   

               

Erinnern Ins

Erinnern versinken
wie ein Schatzsucher
und wieder auftauchen
in die Gegenwart
hellhöriger geworden und hellsichtiger
für Dinge – die dauern

 

 

                          

Der Glückliche

ein Träumer
im Lächeln am Morgen

im Aufblick zum Himmel 


auf der Suche nach Licht
im Lauf durch die Welt

                                                                                       Musik

 




Foto: Berni Patten, Köln

Grafiken auf dieser Seite und im Buch
mit freundlicher Genehmigung von Elisabeth Wegerle, Hamburg:

Wegerle-Webstrukturen


                                                     Ein Gedicht-Abend mit Annemarie Schnitt

                                                in der "Donnerstagsgesellschaft" am 9. Juni 2011
                                                       im Hotel Schere (Heinrich-Heine-Zimmer)



Northeim, am 9.6.2011 (Lesung in der Donnerstags-Gesellschaft)

… Ich bedanke mich herzlich für die Einladung in diese „Donnerstags“-Runde. Bei Ihnen lesen zu dürfen, ist mir eine Ehre. Vielleicht wird für mich als Zugezogene, die ihr Herz zuvor ans Ruhrgebiet verloren hatte, auch Northeim dadurch noch etwas vertrauter?
Im Ruhrgebiet erlebte ich neben sehr interessanten Aktivitäten im kirchlichen Raum auch gute Begegnungen über den dortigen Kulturförderverein Ruhrgebiet.
Es waren Freunde dieser Gruppe, die mich damals an den Computer brachten. Sie führten mich ein und gestalteten mir eine eigene Homepage für meine vielen, inzwischen angesammelten Texte.
Auf diese Weise kam ich an einen „virtuellen“ Schreibtisch, an dem ich systematischer Ordnung schaffen konnte als auf dem realen mit vielen Zetteln und Blöcken. Es gab erste Mail- und Gästebuchreaktionen, Gedankenaustausch mit mir fremden Menschen, die auf die Texte gestoßen waren. Eine neue Welt für mich, die im Laufe der Jahre mein Leben sehr bereicherte!
Nachdem ich in den 80er Jahren drei kleine Lyrik-Buch- Veröffentlichungen im Kiefel-Bertelsmann-Verlag hatte, betreute mich hier im Kulturförderverein eine junge Germanistin als Lektorin im einem neu gegründeten Verlag des Kulturfördervein Ruhrgebiet(KFVR). Dort kam gerade ein viertes Büchlein von mir heraus, der “Perlfluss Poesie“, dessen Titel einen sehr speziellen Hintergrund rückspiegelt. Darauf möchte ich zum besseren Verständnis kurz eingehen:
Ich bin in Südchina geboren, bin zwischen Perlfluss und Ostfluss (im heutigen Guangzhou) auf einer Missionsstation aufgewachsen. Mein Vater leitete dort als Missionar der Rheinischen Kirche Wuppertal ein Lepra-Asyl mit über 300 an Aussatz erkrankten Menschen. Es wurde am Anfang des 20. Jahrhunderts als erstes Auffanglager gegründet, als Missionare die von der Gesellschaft Ausgestoßenen auf Friedhöfen, in einsamen Höhlen und Ecken auflasen und ihnen ein Obdach schafften auf einer nahen Halbinsel im Ostfluss, der nicht weit entfernt in den Perlfluss mündet. In diesem Perlfluss-Ostfluss-Gebiet wirkten Missionare schon seit über 100 Jahren im ärztlichen, im Schul- und seelsorgerlichen Dienst, bis die Mao-Revolution 1949 die Ausländer vertrieb.

Ich sehe in meinem Vater den ersten Entwicklungshelfer dort, dessen besonderes Anliegen, bei auch aber zur Lepra-Insel, um den Gesundheitszustand der Betroffenen zu überprüfen.
Eine Kapelle wurde gebaut als Begegnungszentrum, ein Raum für Gespräche, Andacht und Stille. Mit der Harmonie-Lehre der drei chinesischen Religionen, dem Daoismus – Buddhismus – Konfuzianismus, versuchten Christen ihr theologisches Denken in Einklang bringen! In allen Religionen geht es um den Menschen zwischen Himmel und Erde. Unserm christlichen und ausgeprägt anthropologischem Heilsverständnis steht ein kosmisches in den anderen Religionen gegenüber. Auch die christlichen Aussagen wurden verstanden und dankbar angenommen und Gemeinden gegründet, zu denen es heute noch Kontakte gibt.
Auf dem Gelände des Lepra-Asyls entstanden Töpfereien, Werkstätten mit Brennöfen für alle nötigen Gebrauchsgegenstände wie Reisschalen, Vasen, Krüge. Angelieferte Tonerde wurde gemischt mit vorhandenem Quarzsand und Wasser vom Flussufer vor Ort.
Mein Vater ließ eine Steinpresse aus Deutschland kommen und stellte mit den Lepra-Kranken Stein- und Terrazzoplatten in jeder Größe und Menge her, etwas ganz Neues damals auf dem chinesischen Markt – Ware, die als gebrannte Ware auch verkauft werden konnte in die Städte rundum. Noch heute zum Beispiel – ich hoffe es! - ist der Bahnhofsvorplatz von Guangzhou mit den Platten vom Asyl gepflastert. Auch Hospitäler in Hongkong zeigten großes Interesse an den neuartigen Fußbodenplatten.
So trugen die noch arbeitsfähigen Kranken selbst bei zu ihrem Lebensunterhalt, entwickelten neue Lebensfreude und waren nicht nur auf Spenden aus Amerika und anderswo angewiesen.
Oft erzählte mein Vater von der sehr besonderen Arbeitsatmosphäre dort: Jede Arbeit war freiwillig, einige schafften nur noch Handreichungen, andere schauten zu und freuten sich mit den Schaffenden über die Erfolge!
In diesem Umfeld wuchs ich mit meiner jüngeren Schwester mit chinesischem Namen (Mulan und Amui) unter Chinesenkindern auf. Wir sprachen ihre Sprache, spielten ihre Spiele. Ein paar Jahre später kamen noch ein Bruder und eine Schwester hinzu. Da ich wiederholt bedenklich an Malaria erkrankte, entschlossen sich meine Eltern schweren Herzens, mich mit meiner Schwester nach ihrem Deutschlandurlaub 1932 im Missionsinternat in Düsseldorf -Kaiserswerth zu lassen – bis zum nächsten Urlaubswiedersehen nach den üblichen sechs Jahren. Daraus wurden dann kriegsbedingt 16 Jahre. Erst 1948 gab es dann ein bewegendes Wiedersehen am Flughafen in Frankfurt.
Doch das alles ist nicht das Thema dieses Abends. Der Perlfluss, den ich als Kind erlebte, blieb mir mit guten Bildern im Gedächtnis. Ich sah ihn 1991 wieder bei einem Besuch der alten China-Gemeindestationen und wanderte in Guangdomg gedankenverloren an seinem Ufer entlang. Inzwischen wurde er für mich zu einem Gedankenfluss, zum „Perlfluss Poesie“, der sehr viel verstecktere Bahnen zieht als der mächtige Fluss der Kindheit in China.
Und nun – bevor ich lese – noch diese Frage: Wie kommt man ans Schreiben?
Mir schenkte ein Patenonkel zur Konfirmation im ersten Kriegsjahr ein dickes leinengebundenes Tagebuch: blau mit kleinen roten Blüten darauf … Das begleitete mich durch die Pubertät, half mir über manche Kriegsereignisse und Heimwehphasen hinweg und hielt mich an zum ersten Reflektieren und Gedankensammeln. Ein originelles Sammelsurium trauriger und lustiger Lebenserfahrungen, erste Rilke-Gedichte, später auch Hölderlin und dazwischen versponnene eigene Schreibversuche. Ein Tagebuch löste im Laufe der Zeit das nächste ab, bis dann in letzten Büchern sehr viel später nur noch Gedichtversuche übrig blieben.
Vielleicht ist der Perlfluss Poesie auch eine Art Tagebuch! „Möcht nicht sprachlos werden“ heißt eins meiner ersten Lyrikbändchen aus dem Kiefel-Bertelsmann-Verlag aus den 80er Jahren. Denn: Schreiben heißt doch „bei Sprache bleiben“, heißt zu kommunizieren mit sich selbst, mit Gott, mit einem Gegenüber.
Bevor ich lese, möchte ich noch kurz Octavio Paz, den mexikanischen Dichter und Diplomaten zitieren.
Er schreibt: "Das Gedicht, sei es offen oder verschlossen, fordert die Abschaffung des Dichters, der es schreibt, und die Geburt des Dichters, der es liest oder hört!“
In diesem Sinne möchte ich mich jetzt abschaffen beim Lesen der jüngsten Gedichte aus dem Perlfluss Poesie:


"Das Gedicht, sei es offen oder verschlossen, fordert die Abschaffung des Dichters, der es schreibt, und die Geburt des Dichters, der es liest oder hört!“
Octavio Paz

Geheimsprache 

Kennst du sie
die Sprache mit Melodie
die Geheimsprache Poesie
die Sprache der Sprachen

sie schläft nebenan

wenn du sie weckst
sie für dich entdeckst
wird die Sprache der Sprachen
dich hellhörig machen



Ein Gedicht

zerbrechlich wie ein Glas
aus Kristall
nimm behutsam
das zarte Gebilde
und halt es gegen den Tag
vielleicht erkennst du
im Zauberkreis
sich brechenden Lichts
Spuren gebrochenen Seins
aufgefangen im Spielraum
gezündeter Farben



Das Gedicht 

ein bewohnbarer Raum
die Zeit wie gebannt
Gedanken sammeln sich
Träume nisten sich ein
Sterne blitzen auf über
dem verdichteten Leben



Der Perlfluss Poesie

der schmale
wie er sich Bahn bricht
durch alle Winkel der Welt
unauslotbar seine Quelle
unauffindbar sein Ziel
im Zenit der Zeit
unaufhaltbar sein Lauf
geheimnisumwachsen
neben wilden Gewässern
wie er sich verliert
in Tiefen und Tälern
sich wiederfindet
unter Sonne und Mond
Aufgelesenes fortzutragen
ins Gedächtnis der Tage



Meine Landschaft

ist die der Gedanken

der verzweigten

wie Baumgeäst kahl
gegen den Himmel
meine Landschaft

ist die der Träume

der tröstlichen

nackte Zweige
zum Blühen zu bringen



Etwas in mir

ist jung geblieben
bewegt sich auf leichten Füßen
streckt sich zu Sonne
schwimmt gegen denStrom
hält mir die Stange
beim Sprung über die Zeit



Dunkel das Wasser

im Brunnen der Erinnerung
wenn du dich beugst
über den Rand

den steinernen wird es lebendig
spiegelt Gesichter
und tanzende Sterne
spiegelt Zweige im Wind
spiegelt dir Leben zurück



Bilder

die ohnmächtig machen  
den Atem stocken lassen
dich aus der Fassung bringen
Bilder
die mehr sind als Bilder
von Menschen mit Namen
mit einem Gesicht wie du und ich
Bilder
die sich einbrennen
unauslöschlich in dir
unaufhebbar
vom hämmernden Herzen



Erinnerungsgang durch die Stadt
(Gedenken an das Schicksal der Juden)

Und plötzlich wird dir die Stadt vertraut
wo die Toten auferstehen
in der Erinnerung
wo sie ihren Geschäften
im Alltag nachgehen
wo sie sich bege
in Versammlungen
wo sie ihre Fenster
öffnen und schließen
wo sie sich zuwinken
quer über die Straße
auf der du heute stehst
ihnen zuzuwinken
in tiefer Betroffenheit



Bei Trost sein

Sind wir Menschen noch
bei Trost
in unserm Tun
in unserm Lassen
noch bei Trost
beim blinden Sprung
über Grenzen in Zukünftiges
bei Trost in unserer Utopie
dass alles machbar sei
die Natur verfügbar
der Mensch manipulierbar
sind wir Menschen noch
bei Trost
in unserer Selbstvergöttlichung
im Löschen der Hypothese Gott
der tragenden
die uns bei Trost hält



Das verwundete Gedächtnis

der unterdrückten Menschen
der ausgeplünderten Völker
das verwundete Gedächtnis
es schläft nicht
es reibt sich die Augen
es ist hellwach geworden
es schlägt gegen die Tür
unserer Tage
es rammt die Pfosten der Zeit
das verwundete Gedächtnis
es ist wach geworden
wacher denn je
zum Widerstand
gegen die Wilderer der Welt



Wenn du verstehst

lichtet sich Nebel
vibriert die Luft
ebnen sich Wellen
wächst Gras drüber
entspringen Sterne deiner Stirn
wenn du verstehst



Heinrich Heine

Besessen von der Suche nach
Freiheit
besessen Geschichte zu schreiben
mit Bildern einer besseren Welt
besessen sich selbst auszuhalten
Schlafende wachzutrommeln
die Tugend der Jugend
fortzutragen ins Alter



Sie tragen noch heute

die großen alten Geschichten
der Menschheit
sie tragen noch heute
neu erzählt:
Das Chaos von Babel
Kain und Abel die große Flut
das Hoffnungsblatt
im Schnabel der Taube
Hiobs Durchbruch zum Leben
die Idylle von Bethlehem
hinter dem Argwohn der Welt
sie tragen noch heute
die großen Bilder des Lebens
sie wirken weiter
als Essenz des Seins




Und nun weiter im Text:
Wer Gedichte veröffentlicht
(schreibt Donald Marquis),
wirft ein Rosenblatt in den Grand Canyon
und wartet auf Echo.

Und die Nobelpreisträgerin
WISLAWA SYMBORSA sagt:

„Manch wackelige Antwort
ist dieser Frage bereits gefolgt.
Aber ich weiß nicht, ich weiß nicht.
Ich halte mich
daran fest
wie an einem rettenden Geländer.“

(Und bei Schleiermacher lese ich
Keine Poesie – keine Wirklichkeit)




Nichts geht verloren

nicht die Landschaft
durch die ein Wind
dich getrieben nach vorn
nicht die Gärten der Kindheit
in denen immer noch
Fragen blühen
die erste Liebe nicht
alle die Wege bergauf
die Wolkenbrüche der Trauer
nicht das Glück
der Schmetterling
auf geöffneter Hand

nichts geht verloren
Leben ist Frucht
des Erlebten



Freundschaft

schmeckt wie runder Wein
hört sich an wie helles Lachen
fühlt sich an wie weiches Fell
riecht nach frischem Gras
wächst wie Immergrün
zu übergrünen den Winter



Ein Einmaleins

Wär zwischen uns
wild und schön
eine Wiese zum Entgegengehen
wir pflückten Sträuße
aus Sonne und Wind
ein Einmaleins
darin wir einig sind



Zeichen setzen

Mit U l l a:  Herz über Kopf
Mit I n g e b o r g:  Die Zeit stunden
Mit L u i s e:  Im Dunkel singen
Mit C h r i s t a: Sich erinnern
Mit H i l d e:  Eine Rose als Stütze
Mit M a r i e-L u i s e: Nicht so sicher sein
Mit E l s e:  Hell schlafen dunkel wachen
Mit D o r o t h e e:  Fliegen lernen
Mit N e l l y:  Ausgeliefert sein
Mit Rose: Sich bekennen zur Poesie



Ein bisschen Winterschlaf

braucht die Seele
die Schneedecke über dir
zu überdecken den Acker
mit seinen dunklen Furchen
schneeweiß zu umhüllen
das Geäst der Trauer der Sorge
heimzuholen das Geheimnis
hinter den Dingen
ein bisschen Winterschlaf
braucht die Seele
unter der weißen Decke
der Träume vom Gelingen
aufzulesen das Ungeschriebene
hinter dem Festgeschriebenen
Erstarrtes wieder aufzutauen
zu neuem Leben



Auf dem Weg nach vorn

Nie hörst du auf zu träumen
auf dem Weg nach vorn 
es gibt kein Zurück ins Gestern
es gibt nur ein Weiter
vielleicht an Strände
närrischer Vernunft
vielleicht an Ufer
vergessener Weisheit



Und plötzlich

gerätst du ins Schweben
da ist nichts Festes mehr unter den Füßen
du verlässt den Alltagskokon
lässt dich gleiten ins Offene
nach allem Festgefügten
entdeckst eine neue Welt
eine noch unentdeckte
eine leichtere
losgelöst vom Druck des Tages
du wagst den Blick in die Weite
um neu zu verstehen



Schwerpunkte

dir du setzt
im Laufe der Jahre
Punkte die schwerer wiegen
als das Vielerlei und Einerlei
Punkte die dich herausfordern
mit klarem Blick
auf den Punkt zu kommen
im Zug durch die Zeit



Ein Flügel Poesie

Einen Kopf zu
zu erkennen das Ziel
zwei Füße
zu durchforsten
die Schätze der Welt
zwei Hände
zu hüten das Heil
ein Herz aufzufangen
den Fluss der Dinge
ein Flügel Poesie
Unfassbares
zu erfassen im Fliegen



Heute Nacht

ein Gedicht verloren
im Getümmel der Träume
im Morgengrauen
eine Menge Meilen
zurückgelaufen
keiner wird mir je
den Vogel bergen
der aus dem Nest gefallen



Eines Tages

verflüchtigst du dich
wie ein Traum sich
verflüchtigt am Morgen
eines Tages
wird kein Tag mehr sein
und keine Nacht  für dich
gefüllt mit Träumen
eines Tages
öffnet sich der Horizont
du löst die Riemen der Schuhe
und fliegst davon



Sommertag

Noch ist Sommertag und offen der Himmel

die Luft voller Samen
und süßem Duft

 in den Feldern der Mohn in den Gärten Margriten
am Steilhang zwischen Moos
mein kleines Gedicht



Noch ist Sommertag und offen der Himmel
es dreht sich der Drachen
lautlos im Wind

der Surfer spannt den Flügel
zum Flug über Fluten

am Spinnennetz spinnt
mein kleines Gedicht



Noch ist Sommertag
und offen der Himmel

es atmet die Erde
ganz arglos im Traum

was tun – wenn durch Menschen Zerstörung einbricht
schon wachsen Taubenflügel meinem kleinen Gedicht


Kleine Ergänzung:
UND NOCH EINS 


Den Reim gibt es nicht mehr
nichts reimt sich auf Reim
es sei denn
Reim geht einem Reim
auf den Leim

(Dazu der Kommentar einer Tochter:
Mama:
Schließlich passt auf Reim
 Ordnung Wohlstand trautes Heim
bei Magendrücken Haferschleim
auf alles gibt es einen Reim
Kritik erstickt im ersten Keim 
auf dem Leim vom Reim)

                                                        Flyer  für die Lesung 2012

Flyer Seite1-1
Flyer Seite 2-1



Datum:  08.07.2012 20.17

Nachgedanken zu einem Gedichtabend von Annemarie Schnitt

Es war ein gedankenvoller Abend, den Annemarie Schnitt in der Donnerstagsgesellschaft Northeim mit ihren Gedichten gestaltet hat. Ihre Art des Vortragens – auch ihre Stimme - verlieh den Gedanken der Gedichte einen Grad von Authentizität, dass man - sich selbst in die vorgetragenen Gedanken einbringend – nicht nur mitgehen konnte, sondern begann, über sich selbst und vergleichbare Situationen nachzudenken. Wenn das Wort gewinnbringend eine Berechtigung hat, dann trifft es auf den Abend mit den Gedichten von Annemarie Schnitt zu. Mir wurde auch klar, was die Lektoren von Schulbuchverlagen bewogen hat, Gedichte von Annemarie Schnitt in Lesebücher zu übernehmen, es ist gut vorstellbar, dass Jugendliche ihre Gedichte ebenso mögen wie die Teilnehmer an dem Gedichtabend. 
Aus der Bedrängnis des Alltags mit seinen Nöten, Begrenzungen und seinen ‚Fesseln der wetterwendischen Welt‘, dem Verweilen im Dunklen, dem an „Scherben“ reichem Leben, das umstellt ist von „Mauern“ und oft genug nur „Sackgassen“ anbietet, öffnen sich in Annemarie Schnitts Gedichten wie in „Chaos im Kopf“, Wege aus der Bedrängnis, Perspektiven auf eine neue, zumeist befreiende Wirklichkeit.
 Aus der geradezu alltäglichen Beobachtung von Festland und Brandung gewinnt Annemarie Schnitt den Gedanken des Neu – Ankommens („fesselfrei“) oder den Gedanken des Neubeginns im Gedicht „Zwischen Ebbe und Flut“. Aus einer Beobachtung wird der Gedanke entziffert, aus dem Gedanken wird das Gedicht. „Aus Gedanken Feuer schlagen“ kann geradezu als das Arbeitsprinzip der Gedichte von Annemarie Schnitt gesehen werden. (Einfühlend war dann auch war die Änderung der Ankündigung durch Olaf Weiß, die aus der Ankündigung „Aus Gedanken Feuer schlagen“ „Aus Gedichten Feuer schlagen“ machte.) Immer wieder keimt in den Gedichten die Hoffnung auf Besseres auf, von Rettung ist die Rede, „wo Hoffnung aufblitzt“ (wieder die Verbindung von Feuer und Besserem). Es geht Annemarie Schnitt nicht um den erfüllten Besitz der Hoffnung - „zerbrechliche Blüten der Hoffnung“ – so sehr sie auch eine bessere Welt sich herbeiwünscht (s. „Wie denn“). Ich fragte mich an einigen Stellen, ob der Titel nicht besser formuliert wäre „Aus Gedanken Funken schlagen“, ob daraus ein Feuer werde, bleibt dem Hörenden aufgegeben - gemäß dem Leitsatz von Octavio Paz „Das Gedicht, sei es offen oder verschlossen, fordert die Abschaffung des Dichters, der es schreibt, und die Geburt des Dichters, der es liest oder hört.“ den Annemarie Schnitt ausdrücklich heranzieht. 
 Und immer wieder nutzt sie die Möglichkeiten der Sprache als Mittel gegen die Vergänglichkeit. Elisabeth Borchers schreibt: "Wenn wir etwas über die Unbestechlichkeit, den Triumph der Sprache erfahren wollen, lesen wir ein Gedicht." Manche Worte wie „Ortlosigkeit“ oder „fesselfrei“ oder „fußsicher, flügelleicht“ oder „blickgenau“, die das Rechtschreibprogramm des Computers nicht sofort annimmt, sind kunstvolle Stufen, die, wenn auch oft genug nur für befreiende Momente, die eigene - oft als belastete und belastend erlebt - Wirklichkeit transzendieren. Noch einmal Elisabeth Borchers. ,,Das Gedicht ist uns selbst auf der Spur, es zeigt uns Wege, die wir verlassen haben, die wir finden oder wieder finden müssen, wenn wir auf dem Weg zu uns selbst sind. Darum sind Gedichte unverzichtbar, darum gehö-ren sie zu unserem Existenzminimum."
Folgt man Annemarie Schnitts Gedichten, kann man sehen, wie ‘Worte Bausteine neuer Welten schaffen“ für den 
„ortlosen Menschen“, „sicherer zu gehen unter der Sonne“.

Herzlichen Dank, Frau Annemarie Schnitt!
Rolf BalloManfred