Manfred Paß
Lesung am 10.9. 2015
Gedichte wie Zugvögel
 Liebe Lyrikfreunde!
																						Ich möchte Sie  heute 
																						einladen zu einer kleinen „aktiven Pause",  in der die
																						Zeit  
																						für eine  Weile stillsteht.  Ohne ein Innehalten, ein gelegentliches Anhalten im Getriebe kann  Künstlerisches nicht  aufgenommen und zu eigen gemacht
																						werden. 
																						Hilde Domin sagte einmal :  “ Ein  Gedicht ändert sich unmerklich, wenn es sich
																						mit 
																						‚dem „Ich“ des Lesers füllt.....“  und heute
																						Abend ergänze ich: Wenn es sich mit dem Ich 
																						„Ich“ des "Zuhörers" 
																						füllt ??
																						Es gibt die  Inseln der Künste neben
																						aller wissenschaftlichen  Erkenntnis und
																						allem  technischen Fortschritt. . Kunst
																						findet zu einer eigenen Sprache. Ihr Atem zaubert 
																						eine Wirklichkeit hinter der Wirklichkeit 
																						des Alltags.  Auf
																						diesem Hintergrund - in Nischenräumen - kreiert sie eine Sprache, die die Begegnung,
																						Nachdenken und Kommunikation bewirkt.
Der Titel meiner Lesung lautet:„Gedichte wie Zugvögel“–„Eine aktive Pause im Mahlstrom aller Geschäftigkeit.“
  Es gibt 3 kleine musikalische Einlagen mit
																						Goldberg-Variationen, die  ich sehr
																						liebe.  Sie haben auf originelle Weise
																						ihren Namen bekommen: Bach komponierte 30 kleine Arien,  die er bei einem Besuch vom Zarenhof  in Dresden von einem jungen hochbegabten
																						Schüler aus Berlin vortragen ließ. Der spielte die Stücke  so hervorragend, dass Bach sie nach ihm
																						benannte: Die Goldberg-Variationen!  Ich
																						hoffe, es klappt bei mir mit dem Abspielen!
																						Ich beginne mit ein paar einführenden Texten, dann folgen weitere unter den
																						Titeln:  
																						
Der Lauf der Dinge 
																						und Atempausen
Annemarie Schnitt
Gedichte wie Zugvögel
dich mitzuziehen
in wärmere Zonen
Poesie
das beflügelt Wort
das aus der Luft gegriffene
																						das freigesetzte
																						zum Flug in die Ferne
Meine Freunde
																						
die Worte
																						wie nahe Wesen
																						unterwegs mit mir
																						auf geheimen Wegen
Festgehaltene
an weiten Stränden
aufgelesene Gedanken
gefügt zur Form
im Vers
Es gibt sie
die poetische Wahrheit hinter
der Wahrheit der Welt
																						die andere Sicht der Dinge
																						die dich bannt dich wach hält
																						 die das Leben
																						neu rundet            
Eine Weile noch bleiben
 nah am Wort
																						 im Spielraum der Sprache
																						im Lichtkreis der Sonne
																						zu erwärmen die Stirn
																						Verborgenes heimlich
																						zum Blühen zu bringen
Zuweilen halte ich an
																						Worte zu finden
																						im Fluss des Tages
																						fange sie ein
																						fülle mein Netz
																						eh sie forttreiben
																						in der Flut des Vergessens
																						mich zurück lassen
wortlos am Weg
Ereignis
einem anklopfenden Gedanken
																						die Tür des Tages öffnen
																						dass er eintrete
																						Licht zünde und
																						dich fortziehe ins Freie
Musik
Der Lauf der Dinge
Manchmal
																						wache ich auf 
																						mit großem Elan
																						plane tausend Dinge
																						schweren Gewichts   
																						am Ende       den Tag zu
																						beschließen – mit Nichts
Ein Slam - (Versuch)
 wie du 
																						auf der Stelle trittst 
																						wie du trippelst
																						wie du taumelst 
																						wie du wankst 
    wie du stolperst 
																						    wie du stöhnst
																						    wie du suchst 
																						    in allen Ecken 
																						    Dich selbst   zu
																						entdecken
In jungen Jahren
     
																						 der Versuch
																						 freihändig zu radeln
																						querfeldein
																						in späten Zeiten
																						der Versuch
																						freihändig zu gehen
																						mutig geradeaus
Es kommt eine Zeit
																						
da fährt dir das
																						Leben
																						davon wie ein Zug
																						in ungeahnte Ferne
																						du winkst ihm nach
																						stumm und staunend
																						und du hältst an wie
																						ein verwurzelter Baum
am stillen Fleck
Wir  Weitgewanderten
																						
																						
blicken zurück 
																						auf den Weg den langen
																						den unwiederholbaren 
																						der hinter uns liegt 
																						wir halten an
																						den Himmel im Rücken 
																						die Welt vor Augen 
																						wagen uns weiter 
																						anzukommen 
																						hinter dem Tag
Wie Erntezeit
   das Alter
																						  wie Wink und Abgesang
																						  ein neuer
																						Zeitgewinn   
am Ende turbulenter Tage
nach allem Bergauf
  das Ankommen in luftiger Höhe 
																						  das Verweilen hinter dem Gestern
 Immer auf der Suche
																						nach Zusammenhängen 
																						die tragen
																						die dich weiterbringen
																						auf Wegen nach vorn
																						im Unbeständigen
																						etwas Beständiges
																						zu entdecken
Was ist es
das dich bewegt
																						das dich am Leben hält
																						welche Fragen treiben dich weiter
																						wie viel Antwort 
																						fällt dir vom Himmel 
wie viel bleibt hängen im Raum       
																						es ist das Ungelöste das dich drängt
 Lösung zu finden zum Weiterlauf
Wo ortest du dich
																						
																						im Dschungel der Eindrücke
																						im Kunterbunt des Alltags 
																						im Netz der Möglichkeiten
																						wie gehst du dir nicht selbst 
																						verloren in der Vielfalt der Welt
																						wie findest du die Wegmarkierung
																						wie fasst du Fuß  wo kommst du an
																						wirft Vielfalt dich um 
																						wird sie dein Zuhause
																						auf den Wegen voran
																						stolperst du oder wachsen 
																						dir Flügel zum Flug ins Gelingen
Nichts
																						ist mehr
																						
																						wie es  war
																						nichts bleibt  alles bleibt
																						im Kommen im Gehen 
nenn mir Beständiges
																						hinter den Dingen
																						etwas Lohnendes
																						anzuhalten und
																						weiter zu gehen mit 
																						dem Zukunftsblick 
																						der Hoffnung
Man müsste mal
 ja man müsste mal 
																						aus seinen alten Kleidern 
																						steigen in ein neues Gewand
																						mit freundlicheren Farben
																						leichter zu knöpfen
																						mit besserem Sitz
																						um sich neu zu entdecken
																						sich sicherer zu bewegen
																						im zweiten Gang
Der Weitblick
																						       als Rückblick 
																						       auf Generationen 
																						        im Wandel der Zeiten
																						       Der Weitblick
																						       als Hoffnungsblick 
																						       auf Zukünftiges
Dein Flug in die Ferne
 wir wagen Kühnes
																						bewegen uns weiter
																						suchen ein Ziel
																						lassen uns tragen
																						durch Lüfte
																						im blinden Vertrauen 
																						aufgefangen zu sein 
																						
																						
Position beziehen
																						
																						
gut zu wissen wo du stehst
wohin du gehst wo deine Wurzeln
um Undeutliches
deutlicher zu sehen
um eindeutig zu werden
um Position zu beziehen
Zuweilen
																						zerreißt es dich
																						landest du im Loch
																						mitten am Tag
																						ohne Aussicht
																						ohne Lichtblick
																						bis ein Gedanke
																						ein heller dir hilft
																						über die Hürde
  Wo ist Beständiges
																						
																						  Im Wandel der Zeiten
																						  etwas das bleibt hinter 
																						  dem Fliehenden
																						  etwas das trägt
																						  wie Töne dich  tragen
über den Tag
Es gibt sie
die
																						dunklen Tage hinter den hellen
																						die Trauer hinter dem Lachen
																						die Suche nach Sinn  
																						Es gibt sie
Momente
																						das Ankommens 
																						an neuen Stränden
Abstieg oder Aufstieg
Wohin zieht die Menschheit
																						zu welchen Höhen bergan
																						wie sehen sie aus
																						die Ziele der Zukunft
																						die Utopien des Fortschritts
																						die Türme  der neuen 
																						Bauten von Babel
																						
																						
Die Farbe der Nacht
																						
zerstörende Bilder
rundum in der Welt
wo ist Hoffnung auf Rettung
wo das wache Ohr für
den Aufschrei der Stummen
kein Land in Sicht
auf der Flucht über Meere
wer zählt die Schicksale
verschluckt von der 
																						Farbe der Nacht      
Musik
Atempausen
Atempausen
im Galopp der Zeit
																						ein Anhalten
																						in Räumen der Ruhe 
																						einzufangen die Stille
																						hinter dem Sturm
 Augenblicke
																						
																						wie warme Impulse
																						zum Neuanfang
																						Eine Begegnung
																						ein Bild   ein Buch
																						eine Melodie  ein Duft
																						ein Gedicht
																						dich wunderwirksam 
																						zu verwandeln  
Alles bleibt offen
im Zuge
																						der Zeit
																						alles bleibt in Bewegung
																						im Fluss   im Weiterlauf
																						einer Antwort entgegen
Das Nischendasein
Es ist die Nische
  in der
																						du dich sammelst
																						  die Nische
																						  aus der du herauswächst 
																						  in die turbulente Welt
																						  es ist die Nische
																						  die dich auffängt 
im Rückflug zu dir
																						mit Gedichten
																						zwischen Gedichten
																						hinter Gedichten
																						mit Psalmen
																						zwischen Psalmen
																						hinter Psalmen
																						traumstark
																						auf ein Mögliches zu 
Ein Leben
Ein Psalm (Versuch)
																						Gott – Du – Unwiderlegbarer
																						Du – Kraftfeld des Menschen
																						Du  - Atem des Lebens
																						Du  - Lichtpunkt im Dunkel
																						Du  – das ewige Feuer
																						am Rande der Tage
Das Schicksal
																						dein Geschick mein Geschick
																						was ist es das Schicksal
																						das unser Leben beschickt
																						sich einzeichnet in dein Sein
																						das Schicksal dem keiner entrinnt
																						dem du gewachsen sein musst
																						mit wachem Kopf  mit klaren Sinnen
Eines Tages
																						herrscht Stille 
																						hinter dem Sturm
																						wächst ein Lichtstrahl 
																						im Tunnel der Fragen
																						fällt Antwort dir zu im
																						Fortgang der Dinge
																						eines Tages ein Auferstehen
																						leichteren Fußes weiter 
																						zu gehen
Das Gebet
																						ein Prozess
																						ein Anhalten
eine Haltung 
																						
																						wie ein Selbstgespräch
																						das Gespräch mit Gott
Ein Zipfel Zeit
 das Leben geht weiter 
																						über unzählige Zeiträume
																						hinaus in ein Uferloses
																						ein Zipfel Zeit in deiner Hand
																						anzuhalten das Unanhaltbare
Erinnern Ins
Erinnern versinken
																						wie ein Schatzsucher
																						und wieder auftauchen
																						in die Gegenwart
																						hellhöriger geworden und hellsichtiger
																						für Dinge – die dauern
Der Glückliche
ein Träumer
																						im Lächeln am Morgen
																						im Aufblick zum Himmel 
																						auf der Suche nach Licht
																						im Lauf durch die Welt
Musik
											
Foto: Berni Patten, Köln
Grafiken auf dieser Seite und im Buch
mit freundlicher Genehmigung von Elisabeth Wegerle, Hamburg:
Wegerle-Webstrukturen

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Ein Gedicht-Abend mit Annemarie Schnitt
                                                in der "Donnerstagsgesellschaft" am 9. Juni 2011
                                                       im Hotel Schere (Heinrich-Heine-Zimmer)
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Northeim, am 9.6.2011 (Lesung in der Donnerstags-Gesellschaft)
… Ich bedanke mich herzlich für die Einladung in diese „Donnerstags“-Runde. Bei Ihnen lesen zu dürfen, ist mir eine Ehre. Vielleicht wird für mich als Zugezogene, die ihr Herz zuvor ans Ruhrgebiet verloren hatte, auch Northeim dadurch noch etwas vertrauter?
Im Ruhrgebiet erlebte ich neben sehr interessanten Aktivitäten im kirchlichen Raum auch gute Begegnungen über den dortigen Kulturförderverein Ruhrgebiet.
Es waren Freunde dieser Gruppe, die mich damals an den Computer brachten. Sie führten mich ein und gestalteten mir eine eigene Homepage für meine vielen, inzwischen angesammelten Texte.
Auf diese Weise kam ich an einen „virtuellen“ Schreibtisch, an dem ich systematischer Ordnung schaffen konnte als auf dem realen mit vielen Zetteln und Blöcken. Es gab erste Mail- und Gästebuchreaktionen, Gedankenaustausch mit mir fremden Menschen, die auf die Texte gestoßen waren. Eine neue Welt für mich, die im Laufe der Jahre mein Leben sehr bereicherte!
Nachdem ich in den 80er Jahren drei kleine Lyrik-Buch- Veröffentlichungen im Kiefel-Bertelsmann-Verlag hatte, betreute mich hier im Kulturförderverein eine junge Germanistin als Lektorin im einem neu gegründeten Verlag des Kulturfördervein Ruhrgebiet(KFVR). Dort kam gerade ein viertes Büchlein von mir heraus, der “Perlfluss Poesie“, dessen Titel einen sehr speziellen Hintergrund rückspiegelt. Darauf möchte ich zum besseren Verständnis kurz eingehen:
Ich bin in Südchina geboren, bin zwischen Perlfluss und Ostfluss (im heutigen Guangzhou) auf einer Missionsstation aufgewachsen. Mein Vater leitete dort als Missionar der Rheinischen Kirche Wuppertal ein Lepra-Asyl mit über 300 an Aussatz erkrankten Menschen. Es wurde am Anfang des 20. Jahrhunderts als erstes Auffanglager gegründet, als Missionare die von der Gesellschaft Ausgestoßenen auf Friedhöfen, in einsamen Höhlen und Ecken auflasen und ihnen ein Obdach schafften auf einer nahen Halbinsel im Ostfluss, der nicht weit entfernt in den Perlfluss mündet. In diesem Perlfluss-Ostfluss-Gebiet wirkten Missionare schon seit über 100 Jahren im ärztlichen, im Schul- und seelsorgerlichen Dienst, bis die Mao-Revolution 1949 die Ausländer vertrieb.
Ich sehe in meinem Vater den ersten Entwicklungshelfer dort, dessen besonderes Anliegen, bei auch aber zur Lepra-Insel, um den
																																																																																																																																																																												 Gesundheitszustand der Betroffenen zu überprüfen.
																																																																																																																																																																																						Eine Kapelle wurde gebaut als Begegnungszentrum, ein Raum für 
																																																																																																																																																																												Gespräche, Andacht und Stille. Mit der Harmonie-Lehre der drei 
																																																																																																																																																																												chinesischen Religionen, dem Daoismus – Buddhismus – Konfuzianismus, 
																																																																																																																																																																												versuchten Christen ihr theologisches Denken in Einklang bringen! In 
																																																																																																																																																																												allen Religionen geht es um den Menschen zwischen Himmel und Erde. 
																																																																																																																																																																												Unserm christlichen und ausgeprägt anthropologischem Heilsverständnis 
																																																																																																																																																																												steht ein kosmisches in den anderen Religionen gegenüber. Auch die 
																																																																																																																																																																												christlichen Aussagen wurden verstanden und dankbar angenommen und 
																																																																																																																																																																												Gemeinden gegründet, zu denen es heute noch Kontakte gibt.
																																																																																																																																																																																						Auf dem Gelände des Lepra-Asyls entstanden Töpfereien, 
																																																																																																																																																																												Werkstätten mit Brennöfen für alle nötigen Gebrauchsgegenstände wie 
																																																																																																																																																																												Reisschalen, Vasen, Krüge. Angelieferte Tonerde wurde gemischt mit 
																																																																																																																																																																												vorhandenem Quarzsand und Wasser vom Flussufer vor Ort.
																																																																																																																																																																																						Mein Vater ließ eine Steinpresse aus Deutschland kommen und 
																																																																																																																																																																												stellte mit den Lepra-Kranken Stein- und Terrazzoplatten in jeder Größe 
																																																																																																																																																																												und Menge her, etwas ganz Neues damals auf dem chinesischen Markt – 
																																																																																																																																																																												Ware, die als gebrannte Ware auch verkauft werden konnte in die Städte 
																																																																																																																																																																												rundum. Noch heute zum Beispiel – ich hoffe es! - ist der 
																																																																																																																																																																												Bahnhofsvorplatz von Guangzhou mit den Platten vom Asyl gepflastert. 
																																																																																																																																																																												Auch Hospitäler in Hongkong zeigten großes Interesse an den neuartigen 
																																																																																																																																																																												Fußbodenplatten.
																																																																																																																																																																																						So trugen die noch arbeitsfähigen Kranken selbst bei zu ihrem 
																																																																																																																																																																												Lebensunterhalt, entwickelten neue Lebensfreude und waren nicht nur auf 
																																																																																																																																																																												Spenden aus Amerika und anderswo angewiesen.
																																																																																																																																																																																						Oft erzählte mein Vater von der sehr besonderen 
																																																																																																																																																																												Arbeitsatmosphäre dort: Jede Arbeit war freiwillig, einige schafften nur
																																																																																																																																																																												 noch Handreichungen, andere schauten zu und freuten sich mit den 
																																																																																																																																																																												Schaffenden über die Erfolge!
																																																																																																																																																																																						In diesem Umfeld wuchs ich mit meiner jüngeren Schwester mit 
																																																																																																																																																																												chinesischem Namen (Mulan und Amui) unter Chinesenkindern auf. Wir 
																																																																																																																																																																												sprachen ihre Sprache, spielten ihre Spiele. Ein paar Jahre später kamen
																																																																																																																																																																												 noch ein Bruder und eine Schwester hinzu. Da ich wiederholt bedenklich 
																																																																																																																																																																												an Malaria erkrankte, entschlossen sich meine Eltern schweren Herzens, 
																																																																																																																																																																												mich mit meiner Schwester nach ihrem Deutschlandurlaub 1932 im 
																																																																																																																																																																												Missionsinternat in Düsseldorf -Kaiserswerth zu lassen – bis zum 
																																																																																																																																																																												nächsten Urlaubswiedersehen nach den üblichen sechs Jahren. Daraus 
																																																																																																																																																																												wurden dann kriegsbedingt 16 Jahre. Erst 1948 gab es dann ein bewegendes
																																																																																																																																																																												 Wiedersehen am Flughafen in Frankfurt.
																																																																																																																																																																																						Doch das alles ist nicht das Thema dieses Abends. Der 
																																																																																																																																																																												Perlfluss, den ich als Kind erlebte, blieb mir mit guten Bildern im 
																																																																																																																																																																												Gedächtnis. Ich sah ihn 1991 wieder bei einem Besuch der alten 
																																																																																																																																																																												China-Gemeindestationen und wanderte in Guangdomg gedankenverloren an 
																																																																																																																																																																												seinem Ufer entlang. Inzwischen wurde er für mich zu einem 
																																																																																																																																																																												Gedankenfluss, zum „Perlfluss Poesie“, der sehr viel verstecktere Bahnen
																																																																																																																																																																												 zieht als der mächtige Fluss der Kindheit in China.
																																																																																																																																																																																						Und nun – bevor ich lese – noch diese Frage: Wie kommt man ans Schreiben?
																																																																																																																																																																																						Mir schenkte ein Patenonkel zur Konfirmation im ersten 
																																																																																																																																																																												Kriegsjahr ein dickes leinengebundenes Tagebuch: blau mit kleinen roten 
																																																																																																																																																																												Blüten darauf … Das begleitete mich durch die Pubertät, half mir über 
																																																																																																																																																																												manche Kriegsereignisse und Heimwehphasen hinweg und hielt mich an zum 
																																																																																																																																																																												ersten Reflektieren und Gedankensammeln. Ein originelles Sammelsurium 
																																																																																																																																																																												trauriger und lustiger Lebenserfahrungen, erste Rilke-Gedichte, später 
																																																																																																																																																																												auch Hölderlin und dazwischen versponnene eigene Schreibversuche. Ein 
																																																																																																																																																																												Tagebuch löste im Laufe der Zeit das nächste ab, bis dann in letzten 
																																																																																																																																																																												Büchern sehr viel später nur noch Gedichtversuche übrig blieben.
																																																																																																																																																																																						Vielleicht ist der Perlfluss Poesie auch eine Art Tagebuch! 
																																																																																																																																																																												„Möcht nicht sprachlos werden“ heißt eins meiner ersten Lyrikbändchen 
																																																																																																																																																																												aus dem Kiefel-Bertelsmann-Verlag aus den 80er Jahren. Denn: Schreiben 
																																																																																																																																																																												heißt doch „bei Sprache bleiben“, heißt zu kommunizieren mit sich 
																																																																																																																																																																												selbst, mit Gott, mit einem Gegenüber.
																																																																																																																																																																																						Bevor ich lese, möchte ich noch kurz Octavio Paz, den mexikanischen Dichter und Diplomaten zitieren.
																																																																																																																																																																																						Er schreibt: "Das Gedicht, sei es offen oder verschlossen, 
																																																																																																																																																																												fordert die Abschaffung des Dichters, der es schreibt, und die Geburt 
																																																																																																																																																																												des Dichters, der es liest oder hört!“
																																																																																																																																																																																						In diesem Sinne möchte ich mich jetzt abschaffen beim Lesen der jüngsten Gedichte aus dem Perlfluss Poesie:
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																																																																																																																																																																																				"Das Gedicht, sei es offen oder verschlossen, fordert die 
																																																																																																																																																																												Abschaffung des Dichters, der es schreibt, und die Geburt des Dichters, 
																																																																																																																																																																												der es liest oder hört!“
																																																																																																																																																																																				Octavio Paz
Geheimsprache
Kennst du sie
																																																																																																																																																																																							die Sprache mit Melodie
																																																																																																																																																																																							die Geheimsprache Poesie
																																																																																																																																																																																							die Sprache der Sprachen
																																																																																																																																																																																							
																																																																																																																																																																																							sie schläft nebenan
																																																																																																																																																																																							
																																																																																																																																																																																							wenn du sie weckst
																																																																																																																																																																																							sie für dich entdeckst
																																																																																																																																																																																							wird die Sprache der Sprachen
																																																																																																																																																																																							dich hellhörig machen
																																																																																																																																																																																							
																																																																																																																																																																																							
																																																																																																																																																																																							
																																																																																																																																																																																							Ein Gedicht
																																																																																																																																																																																								
																																																																																																																																																																																							zerbrechlich wie ein Glas
																																																																																																																																																																																							aus Kristall
																																																																																																																																																																																							nimm behutsam
																																																																																																																																																																																							das zarte Gebilde
																																																																																																																																																																																							und halt es gegen den Tag
																																																																																																																																																																																							vielleicht erkennst du
																																																																																																																																																																																							im Zauberkreis
																																																																																																																																																																																							sich brechenden Lichts
																																																																																																																																																																																							Spuren gebrochenen Seins
																																																																																																																																																																																							aufgefangen im Spielraum
																																																																																																																																																																																							gezündeter Farben
																																																																																																																																																																																							
																																																																																																																																																																																							
																																																																																																																																																																																							
																																																																																																																																																																																							Das Gedicht 
																																																																																																																																																																																							
																																																																																																																																																																																							ein bewohnbarer Raum
																																																																																																																																																																																							die Zeit wie gebannt
																																																																																																																																																																																							Gedanken sammeln sich
																																																																																																																																																																																							Träume nisten sich ein
																																																																																																																																																																																							Sterne blitzen auf über
																																																																																																																																																																																							dem verdichteten Leben
																																																																																																																																																																																							
																																																																																																																																																																																							
																																																																																																																																																																																							
																																																																																																																																																																																							Der Perlfluss Poesie
																																																																																																																																																																																							
																																																																																																																																																																																							der schmale
																																																																																																																																																																																							wie er sich Bahn bricht
																																																																																																																																																																																							durch alle Winkel der Welt
																																																																																																																																																																																							unauslotbar seine Quelle
																																																																																																																																																																																							unauffindbar sein Ziel
																																																																																																																																																																																							im Zenit der Zeit
																																																																																																																																																																																							unaufhaltbar sein Lauf
																																																																																																																																																																																							geheimnisumwachsen
																																																																																																																																																																																							neben wilden Gewässern
																																																																																																																																																																																							wie er sich verliert
																																																																																																																																																																																							in Tiefen und Tälern
																																																																																																																																																																																							sich wiederfindet
																																																																																																																																																																																							unter Sonne und Mond
																																																																																																																																																																																							Aufgelesenes fortzutragen
																																																																																																																																																																																							ins Gedächtnis der Tage
																																																																																																																																																																																							
																																																																																																																																																																																							
																																																																																																																																																																																							
																																																																																																																																																																																							Meine Landschaft
																																																																																																																																																																																							
																																																																																																																																																																																							ist die der Gedanken
																																																																																																																																																																																							der verzweigten
																																																																																																																																																																																							wie Baumgeäst kahl
																																																																																																																																																																																							gegen den Himmel
																																																																																																																																																																																							meine Landschaft
																																																																																																																																																																																							ist die der Träume
																																																																																																																																																																																							der tröstlichen
																																																																																																																																																																																							nackte Zweige
																																																																																																																																																																																							zum Blühen zu bringen
																																																																																																																																																																																							
																																																																																																																																																																																							
																																																																																																																																																																																							
																																																																																																																																																																																							Etwas in mir
																																																																																																																																																																																								
																																																																																																																																																																																							ist jung geblieben
																																																																																																																																																																																							bewegt sich auf leichten Füßen
																																																																																																																																																																																							streckt sich zu Sonne
																																																																																																																																																																																							schwimmt gegen denStrom
																																																																																																																																																																																							hält mir die Stange
																																																																																																																																																																																							beim Sprung über die Zeit
																																																																																																																																																																																							
																																																																																																																																																																																							
																																																																																																																																																																																							
																																																																																																																																																																																							Dunkel das Wasser
																																																																																																																																																																																							
																																																																																																																																																																																							im Brunnen der Erinnerung
																																																																																																																																																																																							wenn du dich beugst
über den Rand
																																																																																																																																																																																							den steinernen wird es lebendig
																																																																																																																																																																																							spiegelt Gesichter
und tanzende Sterne
																																																																																																																																																																																							spiegelt Zweige im Wind
																																																																																																																																																																																							spiegelt dir Leben zurück
																																																																																																																																																																																							
																																																																																																																																																																																							
																																																																																																																																																																																							
																																																																																																																																																																																							Bilder
																																																																																																																																																																																								
																																																																																																																																																																																							die ohnmächtig machen  
																																																																																																																																																																																							den Atem stocken lassen
																																																																																																																																																																																							dich aus der Fassung bringen
																																																																																																																																																																																							Bilder
																																																																																																																																																																																							die mehr sind als Bilder
																																																																																																																																																																																							von Menschen mit Namen
																																																																																																																																																																																							mit einem Gesicht wie du und ich
																																																																																																																																																																																							Bilder
																																																																																																																																																																																							die sich einbrennen
																																																																																																																																																																																							unauslöschlich in dir
																																																																																																																																																																																							unaufhebbar
																																																																																																																																																																																							vom hämmernden Herzen
																																																																																																																																																																																							
																																																																																																																																																																																							
																																																																																																																																																																																							
																																																																																																																																																																																							Erinnerungsgang durch die Stadt
																																																																																																																																																																																							(Gedenken an das Schicksal der Juden)
																																																																																																																																																																																							
																																																																																																																																																																																							Und plötzlich wird dir die Stadt vertraut
																																																																																																																																																																																							wo die Toten auferstehen
																																																																																																																																																																																							in der Erinnerung
																																																																																																																																																																																							wo sie ihren Geschäften
																																																																																																																																																																																							im Alltag nachgehen
																																																																																																																																																																																							wo sie sich bege
																																																																																																																																																																																							in Versammlungen
																																																																																																																																																																																							wo sie ihre Fenster
																																																																																																																																																																																							öffnen und schließen
																																																																																																																																																																																							wo sie sich zuwinken
																																																																																																																																																																																							quer über die Straße
																																																																																																																																																																																							auf der du heute stehst
																																																																																																																																																																																							ihnen zuzuwinken
																																																																																																																																																																																							in tiefer Betroffenheit
																																																																																																																																																																																							
																																																																																																																																																																																							
																																																																																																																																																																																							
																																																																																																																																																																																							Bei Trost sein
																																																																																																																																																																																							
																																																																																																																																																																																							Sind wir Menschen noch
																																																																																																																																																																																							bei Trost
																																																																																																																																																																																							in unserm Tun
																																																																																																																																																																																							in unserm Lassen
																																																																																																																																																																																							noch bei Trost
																																																																																																																																																																																							beim blinden Sprung
																																																																																																																																																																																							über Grenzen in Zukünftiges
																																																																																																																																																																																							bei Trost in unserer Utopie
																																																																																																																																																																																							dass alles machbar sei
																																																																																																																																																																																							die Natur verfügbar
																																																																																																																																																																																							der Mensch manipulierbar
																																																																																																																																																																																							sind wir Menschen noch
																																																																																																																																																																																							bei Trost
																																																																																																																																																																																							in unserer Selbstvergöttlichung
																																																																																																																																																																																							im Löschen der Hypothese Gott
																																																																																																																																																																																							der tragenden
																																																																																																																																																																																							die uns bei Trost hält
																																																																																																																																																																																							
																																																																																																																																																																																							
																																																																																																																																																																																							
																																																																																																																																																																																							Das verwundete Gedächtnis
																																																																																																																																																																																							
																																																																																																																																																																																							der unterdrückten Menschen
																																																																																																																																																																																							der ausgeplünderten Völker
																																																																																																																																																																																							das verwundete Gedächtnis
																																																																																																																																																																																							es schläft nicht
																																																																																																																																																																																							es reibt sich die Augen
																																																																																																																																																																																							es ist hellwach geworden
																																																																																																																																																																																							es schlägt gegen die Tür
																																																																																																																																																																																							unserer Tage
																																																																																																																																																																																							es rammt die Pfosten der Zeit
																																																																																																																																																																																							das verwundete Gedächtnis
																																																																																																																																																																																							es ist wach geworden
																																																																																																																																																																																							wacher denn je
																																																																																																																																																																																							zum Widerstand
																																																																																																																																																																																							gegen die Wilderer der Welt
																																																																																																																																																																																							
																																																																																																																																																																																							
																																																																																																																																																																																							
																																																																																																																																																																																							Wenn du verstehst
																																																																																																																																																																																							
																																																																																																																																																																																							lichtet sich Nebel
																																																																																																																																																																																							vibriert die Luft
																																																																																																																																																																																							ebnen sich Wellen
																																																																																																																																																																																							wächst Gras drüber
																																																																																																																																																																																							entspringen Sterne deiner Stirn
																																																																																																																																																																																							wenn du verstehst
																																																																																																																																																																																							
																																																																																																																																																																																							
																																																																																																																																																																																							
																																																																																																																																																																																							Heinrich Heine
																																																																																																																																																																																							
																																																																																																																																																																																							Besessen von der Suche nach
																																																																																																																																																																																							Freiheit
																																																																																																																																																																																							besessen Geschichte zu schreiben
																																																																																																																																																																																							mit Bildern einer besseren Welt
																																																																																																																																																																																							besessen sich selbst auszuhalten
																																																																																																																																																																																							Schlafende wachzutrommeln
																																																																																																																																																																																							die Tugend der Jugend
																																																																																																																																																																																							fortzutragen ins Alter
																																																																																																																																																																																							
																																																																																																																																																																																							
																																																																																																																																																																																							
																																																																																																																																																																																							Sie tragen noch heute
																																																																																																																																																																																								
																																																																																																																																																																																							die großen alten Geschichten
																																																																																																																																																																																							der Menschheit
																																																																																																																																																																																							sie tragen noch heute
																																																																																																																																																																																							neu erzählt:
																																																																																																																																																																																							Das Chaos von Babel
																																																																																																																																																																																							Kain und Abel die große Flut
																																																																																																																																																																																							das Hoffnungsblatt
																																																																																																																																																																																							im Schnabel der Taube
																																																																																																																																																																																							Hiobs Durchbruch zum Leben
																																																																																																																																																																																							die Idylle von Bethlehem
																																																																																																																																																																																							hinter dem Argwohn der Welt
																																																																																																																																																																																							sie tragen noch heute
																																																																																																																																																																																							die großen Bilder des Lebens
																																																																																																																																																																																							sie wirken weiter
																																																																																																																																																																																							als Essenz des Seins
																																																																																																																																																																																						

																																																																																																																																																																																			
![]()
																																																																																																																																																																																							
																																																																																																																																																																																							Und nun weiter im Text:
																																																																																																																																																																																							Wer Gedichte veröffentlicht
																																																																																																																																																																																							(schreibt Donald Marquis),
																																																																																																																																																																																							
																																																																																																																																																																																								wirft ein Rosenblatt in den Grand Canyon
und wartet auf Echo.
																																																																																																																																																																																							
																																																																																																																																																																																							Und die Nobelpreisträgerin
																																																																																																																																																																																								WISLAWA SYMBORSA sagt:
																																																																																																																																																																																							
																																																																																																																																																																																								„Manch wackelige Antwort
																																																																																																																																																																																									ist dieser Frage bereits gefolgt.
																																																																																																																																																																																								Aber ich weiß nicht, ich weiß nicht.
																																																																																																																																																																																									Ich halte mich daran fest
																																																																																																																																																																																							wie an einem rettenden Geländer.“
																																																																																																																																																																																								
(Und bei Schleiermacher lese ich
																																																																																																																																																																																								Keine Poesie – keine Wirklichkeit)
																																																																																																																																																																																							
																																																																																																																																																																																							
																																																																																																																																																																																							
																																																																																																																																																																																							Nichts geht verloren
																																																																																																																																																																																								
																																																																																																																																																																																							nicht die Landschaft
																																																																																																																																																																																								durch die ein Wind
																																																																																																																																																																																								dich getrieben nach vorn
																																																																																																																																																																																							nicht die Gärten der Kindheit
																																																																																																																																																																																								in denen immer noch
																																																																																																																																																																																							Fragen blühen
																																																																																																																																																																																								die erste Liebe nicht
																																																																																																																																																																																								alle die Wege bergauf
																																																																																																																																																																																							die Wolkenbrüche der Trauer
																																																																																																																																																																																							nicht das Glück
																																																																																																																																																																																								der Schmetterling
																																																																																																																																																																																							auf geöffneter Hand
																																																																																																																																																																																							
																																																																																																																																																																																								nichts geht verloren
																																																																																																																																																																																								Leben ist Frucht
																																																																																																																																																																																								des Erlebten
																																																																																																																																																																																							
																																																																																																																																																																																								
																																																																																																																																																																																								
																																																																																																																																																																																									Freundschaft
																																																																																																																																																																																								
																																																																																																																																																																																							schmeckt wie runder Wein
																																																																																																																																																																																							hört sich an wie helles Lachen
																																																																																																																																																																																							fühlt sich an wie weiches Fell
																																																																																																																																																																																								riecht nach frischem Gras
																																																																																																																																																																																							wächst wie Immergrün
																																																																																																																																																																																							zu übergrünen den Winter
																																																																																																																																																																																							
																																																																																																																																																																																							
																																																																																																																																																																																							
																																																																																																																																																																																									Ein Einmaleins
																																																																																																																																																																																								
																																																																																																																																																																																							Wär zwischen uns
																																																																																																																																																																																							wild und schön
																																																																																																																																																																																								eine Wiese zum Entgegengehen
																																																																																																																																																																																							wir pflückten Sträuße
																																																																																																																																																																																								aus Sonne und Wind
																																																																																																																																																																																								ein Einmaleins
																																																																																																																																																																																								darin wir einig sind
																																																																																																																																																																																							
																																																																																																																																																																																								
																																																																																																																																																																																								
																																																																																																																																																																																									Zeichen setzen
																																																																																																																																																																																								
																																																																																																																																																																																							Mit U l l a:  Herz über Kopf
																																																																																																																																																																																							Mit I n g e b o r g:  Die Zeit stunden
																																																																																																																																																																																							Mit L u i s e:  Im Dunkel singen
																																																																																																																																																																																								Mit C h r i s t a: Sich erinnern
																																																																																																																																																																																							Mit H i l d e:  Eine Rose als Stütze
																																																																																																																																																																																								Mit M a r i e-L u i s e: Nicht so sicher sein
																																																																																																																																																																																							Mit E l s e:  Hell schlafen dunkel wachen
																																																																																																																																																																																							Mit D o r o t h e e:  Fliegen lernen
																																																																																																																																																																																							Mit N e l l y:  Ausgeliefert sein
																																																																																																																																																																																								Mit Rose: Sich bekennen zur Poesie
																																																																																																																																																																																							
																																																																																																																																																																																							
																																																																																																																																																																																							
																																																																																																																																																																																							Ein bisschen Winterschlaf
																																																																																																																																																																																							
																																																																																																																																																																																								braucht die Seele
																																																																																																																																																																																							die Schneedecke über dir
																																																																																																																																																																																							zu überdecken den Acker
																																																																																																																																																																																								mit seinen dunklen Furchen
																																																																																																																																																																																							schneeweiß zu umhüllen
																																																																																																																																																																																							das Geäst der Trauer der Sorge
																																																																																																																																																																																								heimzuholen das Geheimnis
																																																																																																																																																																																								hinter den Dingen
																																																																																																																																																																																								ein bisschen Winterschlaf
																																																																																																																																																																																								braucht die Seele
																																																																																																																																																																																							unter der weißen Decke
																																																																																																																																																																																							der Träume vom Gelingen
																																																																																																																																																																																								aufzulesen das Ungeschriebene
																																																																																																																																																																																								hinter dem Festgeschriebenen
																																																																																																																																																																																								Erstarrtes wieder aufzutauen
																																																																																																																																																																																								zu neuem Leben
																																																																																																																																																																																							
																																																																																																																																																																																								
																																																																																																																																																																																								
																																																																																																																																																																																									Auf dem Weg nach vorn
																																																																																																																																																																																							
																																																																																																																																																																																							Nie hörst du auf zu träumen
																																																																																																																																																																																							auf dem Weg nach vorn 
																																																																																																																																																																																							es gibt kein Zurück ins Gestern
																																																																																																																																																																																								es gibt nur ein Weiter
																																																																																																																																																																																							vielleicht an Strände
																																																																																																																																																																																							närrischer Vernunft
																																																																																																																																																																																								vielleicht an Ufer
																																																																																																																																																																																								vergessener Weisheit
																																																																																																																																																																																							
																																																																																																																																																																																							
																																																																																																																																																																																							
																																																																																																																																																																																							Und plötzlich
																																																																																																																																																																																								
																																																																																																																																																																																							gerätst du ins Schweben
																																																																																																																																																																																							da ist nichts Festes mehr unter den Füßen
																																																																																																																																																																																							du verlässt den Alltagskokon
																																																																																																																																																																																							lässt dich gleiten ins Offene
																																																																																																																																																																																							nach allem Festgefügten
																																																																																																																																																																																								entdeckst eine neue Welt
																																																																																																																																																																																								eine noch unentdeckte
																																																																																																																																																																																								eine leichtere
																																																																																																																																																																																							losgelöst vom Druck des Tages
																																																																																																																																																																																								du wagst den Blick in die Weite
																																																																																																																																																																																								um neu zu verstehen
																																																																																																																																																																																							
																																																																																																																																																																																							
																																																																																																																																																																																							
																																																																																																																																																																																							Schwerpunkte
																																																																																																																																																																																								
																																																																																																																																																																																							dir du setzt
																																																																																																																																																																																								im Laufe der Jahre
																																																																																																																																																																																								Punkte die schwerer wiegen
																																																																																																																																																																																								als das Vielerlei und Einerlei
																																																																																																																																																																																								Punkte die dich herausfordern
																																																																																																																																																																																								mit klarem Blick
																																																																																																																																																																																								auf den Punkt zu kommen
																																																																																																																																																																																								im Zug durch die Zeit
																																																																																																																																																																																							
																																																																																																																																																																																							
																																																																																																																																																																																							
																																																																																																																																																																																							Ein Flügel Poesie
																																																																																																																																																																																								
																																																																																																																																																																																							Einen Kopf zu
																																																																																																																																																																																								zu erkennen das Ziel
																																																																																																																																																																																							zwei Füße
																																																																																																																																																																																								zu durchforsten
																																																																																																																																																																																							die Schätze der Welt
																																																																																																																																																																																							zwei Hände
																																																																																																																																																																																							zu hüten das Heil
																																																																																																																																																																																								ein Herz aufzufangen
																																																																																																																																																																																								den Fluss der Dinge
																																																																																																																																																																																							ein Flügel Poesie
																																																																																																																																																																																								Unfassbares
																																																																																																																																																																																								zu erfassen im Fliegen
																																																																																																																																																																																							
																																																																																																																																																																																							
																																																																																																																																																																																							
																																																																																																																																																																																							Heute Nacht
																																																																																																																																																																																								
																																																																																																																																																																																							ein Gedicht verloren
																																																																																																																																																																																							im Getümmel der Träume
																																																																																																																																																																																								im Morgengrauen
																																																																																																																																																																																								eine Menge Meilen
																																																																																																																																																																																							zurückgelaufen
																																																																																																																																																																																								keiner wird mir je
																																																																																																																																																																																								den Vogel bergen
																																																																																																																																																																																								der aus dem Nest gefallen
																																																																																																																																																																																							
																																																																																																																																																																																							
																																																																																																																																																																																							
																																																																																																																																																																																							Eines Tages
																																																																																																																																																																																								
																																																																																																																																																																																							verflüchtigst du dich
																																																																																																																																																																																								wie ein Traum sich
																																																																																																																																																																																							verflüchtigt am Morgen
																																																																																																																																																																																								eines Tages
																																																																																																																																																																																								wird kein Tag mehr sein
																																																																																																																																																																																							und keine Nacht  für dich
																																																																																																																																																																																							gefüllt mit Träumen
																																																																																																																																																																																								eines Tages
																																																																																																																																																																																							öffnet sich der Horizont
																																																																																																																																																																																							du löst die Riemen der Schuhe
																																																																																																																																																																																								und fliegst davon
																																																																																																																																																																																							
																																																																																																																																																																																							
																																																																																																																																																																																							
																																																																																																																																																																																							Sommertag
																																																																																																																																																																																							
																																																																																																																																																																																								Noch ist Sommertag und offen der Himmel
																																																																																																																																																																																								die Luft voller Samen
und süßem Duft
																																																																																																																																																																																							 in den Feldern der Mohn in den Gärten Margriten
																																																																																																																																																																																								am Steilhang zwischen Moos
mein kleines Gedicht
																																																																																																																																																																																							
																																																																																																																																																																																								Noch ist Sommertag und offen der Himmel
																																																																																																																																																																																								es dreht sich der Drachen
lautlos im Wind
																																																																																																																																																																																							der Surfer spannt den Flügel
zum Flug über Fluten
																																																																																																																																																																																								am Spinnennetz spinnt
mein kleines Gedicht
																																																																																																																																																																																							
																																																																																																																																																																																								Noch ist Sommertag
und offen der Himmel
																																																																																																																																																																																								es atmet die Erde
ganz arglos im Traum
																																																																																																																																																																																							was tun – wenn durch Menschen Zerstörung einbricht
																																																																																																																																																																																							schon wachsen Taubenflügel meinem kleinen Gedicht
																																																																																																																																																																																							
																																																																																																																																																																																							
																																																																																																																																																																																								Kleine Ergänzung:
																																																																																																																																																																																							UND NOCH EINS 
Den Reim gibt es nicht mehr
																																																																																																																																																																																								nichts reimt sich auf Reim
																																																																																																																																																																																								es sei denn
																																																																																																																																																																																								Reim geht einem Reim
																																																																																																																																																																																								auf den Leim
																																																																																																																																																																																							
																																																																																																																																																																																							
(Dazu der Kommentar einer Tochter:
Mama: 
Schließlich passt auf Reim
 Ordnung Wohlstand trautes Heim 
bei Magendrücken Haferschleim 
auf alles gibt es einen Reim 
Kritik erstickt im ersten Keim 
auf dem Leim vom Reim)
Flyer für die Lesung 2012
														
														Datum: 08.07.2012 20.17
Nachgedanken zu einem Gedichtabend von Annemarie Schnitt
Es war ein gedankenvoller Abend, den Annemarie Schnitt in der Donnerstagsgesellschaft Northeim mit ihren Gedichten gestaltet hat. Ihre Art des Vortragens – auch ihre Stimme - verlieh den Gedanken der Gedichte einen Grad von Authentizität, dass man - sich selbst in die vorgetragenen Gedanken einbringend – nicht nur mitgehen konnte, sondern begann, über sich selbst und vergleichbare Situationen nachzudenken. Wenn das Wort gewinnbringend eine Berechtigung hat, dann trifft es auf den Abend mit den Gedichten von Annemarie Schnitt zu. Mir wurde auch klar, was die Lektoren von Schulbuchverlagen bewogen hat, Gedichte von Annemarie Schnitt in Lesebücher zu übernehmen, es ist gut vorstellbar, dass Jugendliche ihre Gedichte ebenso mögen wie die Teilnehmer an dem Gedichtabend. 
Aus der Bedrängnis des Alltags mit seinen Nöten, Begrenzungen und seinen ‚Fesseln der wetterwendischen Welt‘, dem Verweilen im Dunklen, dem an „Scherben“ reichem Leben, das umstellt ist von „Mauern“ und oft genug nur „Sackgassen“ anbietet, öffnen sich in Annemarie Schnitts Gedichten wie in „Chaos im Kopf“, Wege aus der Bedrängnis, Perspektiven auf eine neue, zumeist befreiende Wirklichkeit.
 Aus der geradezu alltäglichen Beobachtung von Festland und Brandung gewinnt Annemarie Schnitt den Gedanken des Neu – Ankommens („fesselfrei“) oder den Gedanken des Neubeginns im Gedicht „Zwischen Ebbe und Flut“. Aus einer Beobachtung wird der Gedanke entziffert, aus dem Gedanken wird das Gedicht. „Aus Gedanken Feuer schlagen“ kann geradezu als das Arbeitsprinzip der Gedichte von Annemarie Schnitt gesehen werden. (Einfühlend war dann auch war die Änderung der Ankündigung durch Olaf Weiß, die aus der Ankündigung „Aus Gedanken Feuer schlagen“ „Aus Gedichten Feuer schlagen“ machte.) Immer wieder keimt in den Gedichten die Hoffnung auf Besseres auf, von Rettung ist die Rede, „wo Hoffnung aufblitzt“ (wieder die Verbindung von Feuer und Besserem). Es geht Annemarie Schnitt nicht um den erfüllten Besitz der Hoffnung - „zerbrechliche Blüten der Hoffnung“ – so sehr sie auch eine bessere Welt sich herbeiwünscht (s. „Wie denn“). Ich fragte mich an einigen Stellen, ob der Titel nicht besser formuliert wäre „Aus Gedanken Funken schlagen“, ob daraus ein Feuer werde, bleibt dem Hörenden aufgegeben - gemäß dem Leitsatz von Octavio Paz „Das Gedicht, sei es offen oder verschlossen, fordert die Abschaffung des Dichters, der es schreibt, und die Geburt des Dichters, der es liest oder hört.“ den Annemarie Schnitt ausdrücklich heranzieht. 
 Und immer wieder nutzt sie die Möglichkeiten der Sprache als Mittel gegen die Vergänglichkeit. Elisabeth Borchers schreibt: "Wenn wir etwas über die Unbestechlichkeit, den Triumph der Sprache erfahren wollen, lesen wir ein Gedicht." Manche Worte wie „Ortlosigkeit“ oder „fesselfrei“ oder „fußsicher, flügelleicht“ oder „blickgenau“, die das Rechtschreibprogramm des Computers nicht sofort annimmt, sind kunstvolle Stufen, die, wenn auch oft genug nur für befreiende Momente, die eigene - oft als belastete und belastend erlebt - Wirklichkeit transzendieren. Noch einmal Elisabeth Borchers. ,,Das Gedicht ist 																																																																																																																																																																																																																																																																																							uns selbst auf der Spur, es zeigt uns Wege, die wir verlassen haben, die wir finden oder wieder finden müssen, wenn wir auf dem Weg zu uns selbst sind. Darum sind Gedichte unverzichtbar, darum gehö-ren sie zu unserem Existenzminimum."
Folgt man Annemarie Schnitts Gedichten, kann man sehen, wie ‘Worte Bausteine neuer Welten schaffen“ für den 
„ortlosen Menschen“, „sicherer zu gehen unter der Sonne“.
Herzlichen Dank, Frau Annemarie Schnitt!
Rolf BalloManfred